Mit der ÖFG übernehmen Sie eine Institution, die sich seit einem halben Jahrhundert für Menschen am Rand der Gesellschaft einsetzt. Haben Sie schon Ideen, wie es mit unserem Laden weitergehen soll?
Die erste Idee: Der Laden soll so weiterlaufen wie bisher. Diese gute Tradition, die Walter Münzenberger aufgebaut hat, gilt es weiterzuführen.
Ich fühle mich in der Tat geehrt, dieses Erbe anzutreten und Chefin dieser engagierten Menschen zu sein, die ihr Herzblut für ihre Arbeit geben. Es ist eine Freude, Energie einzusetzen, damit die Mitarbeitenden weiterhin ihre Arbeit so guttun können.
Nach anderthalb Wochen kann ich immerhin schon sagen: Die Projekte sind gut durchdacht und solide finanziert, so dass man keine Angst haben muss, dass demnächst etwas ausstirbt. Wenn Dinge angestoßen werden, dann darf da nichts kurzfristig gedacht werden. Es gibt natürlich immer den einen oder anderen Prozess, den man schärfen kann. Den Fachkräftemangel müssen wir ernstnehmen; mehr ausbilden, Praktika, FSJ, all das ist wichtig. Es gibt einen großen Bedarf!
Frau Kindsvater, kannten Sie die „Einweisungsgebiete“ Bayreuther Straße und Mundenheim-West schon vor Ihrem Dienstantritt? Was ist Ihr Eindruck?
Vom äußeren Anschein waren mir die Gebiete schon bekannt. Ich habe eine Zeitlang in Oggersheim gewohnt … Bei Tagungen im Heinrich-Pesch-Haus habe ich die Bayreuther Straße gesehen. Auch diese Doku vom SWR habe ich mir angeschaut. Mit Speyer, wo ich wohne, ist das alles ja nicht vergleichbar. Aber ich habe den Eindruck, dass die richtige Art von Sozialarbeit geleistet wird. In meiner eigenen Berufspraxis war ich mehr mit Jugendhilfe und Suchtberatung befasst.
Wo sehen Sie die Hauptursachen einer Entwicklung, die ganze Stadtviertel abkoppelt, während andernorts die Baubranche floriert und Luxusquartiere zu Hauf entstehen?
Die Menschen sind im Prinzip chancenlos. Man verliert da das Vertrauen auf Selbstwirksamkeit, gibt irgendwann auf: Den Schulabschluss schaffe ich ja doch nie … Aus Sozialleistungen herauszukommen, ist um ein Vielfaches schwerer als aus einer Mittelstandssituation in eine finanziell sehr gute Situation zu kommen. Wenn es zu einem unüberwindlichen Problem wird, eine Kaution zu bezahlen, ist eine absolute Grenze erreicht. Der Zugang zum Wohnen ist dann ein ganz anderer. An solchen Dingen scheitert es.
Als ich in Ludwigshafen zu arbeiten begonnen habe, war das Einkommen eines BASF-Managers ca. zwanzigmal so hoch wie das eines „gewöhnlichen“ Arbeitnehmers. Inzwischen hat sich das verzehnfacht. Sehen Sie Möglichkeiten, wie wir die soziale Schere wieder geschlossen kriegen?
Mit unserer Arbeit nicht. Wir können immerhin mit unseren Projekten politische Lobbyarbeit leisten, um Transparenz und Aufmerksamkeit für diese Themen zu produzieren. Ändern kann daran etwas nur die Politik. Dafür müssen wir Öffentlichkeitsarbeit leisten. Man muss sich eben mit den Zahlen beschäftigen und sie richtig interpretieren, die Akteure im sozialen Raum fragen: Was bedeuten diese Zahlen für die Menschen konkret?
Nach Jahrzehnten einer negativen Verstetigung kam es zuletzt zu einer Art Tauwetter bei der Stadtverwaltung. Welche Impulse könnten noch gegeben werden, damit es hier weitergeht … und zwar so bald wie möglich?
Als Person, die in der „sozialen Welt“ unterwegs war, sehe ich die Potentiale, die in den Leuten liegen, ihre kreativen Ideen. Durch eine Änderung der Wohnsituation kann man die Aufmerksamkeit wieder auf andere Dinge richten. Wer arbeiten gehen soll, braucht auch eine gescheite Wohnung und nicht nur „Adressenglück!“ Wir müssen die Erfolgsgeschichten erzählen: Wo jemandem etwas gelungen ist, weil er die Voraussetzungen endlich hatte!
Es entspricht einer Tradition, dass die Geschäftsführung der Ludwigshafener ÖFG mit Speyer verbandelt ist. Vergleichen Sie doch mal die beiden Städte!
Da ich auch Kenntnisse von anderen Kommunen und anderen Bundesländern habe, kann ich sagen, dass es bei aller Diversität auch Parallelen gibt. Beide Städte setzen sich über das gesetzlich vorgeschriebene Maß dafür ein, dass es Menschen in prekären Lebenslagen besser geht. Es wird sich bemüht, gemeinsam zu überleben, in Trägervielfalt den Menschen zu helfen. Beide haben eine ähnliche Tradition, unabhängig von der Haushaltslage. In Speyer ist nicht alles besser, nur weil die einen schicken Dom haben … Natürlich gibt es Unterschiede, wofür die Städte bekannt sind: Speyer kommt meistens dran, wenn es etwas Schönes zu berichten gibt, tolle Feste zum Beispiel. Bei Ludwigshafen ist das leider oft anders; es ist halt auch noch nicht so alt. Aber in der Arbeit mit Menschen gibt es durchaus Parallelen. Ich war die erste Jugendhilfeplanerin in Speyer, da ging es auch stark um die Haltung: Wie kann ich die Bevölkerung einspannen, damit Dinge sich verbessern?
Erzählen Sie uns doch bitte ein bisschen über sich! Familie, Vorlieben, Lieblingsgegenden …?
Ich freue mich, die Geschäftsführung der ÖFG übernehmen zu dürfen, weil da die verschiedensten Bereiche meiner beruflichen Erfahrung zusammenlaufen. Ich habe immer gerne für und mit Menschen organisiert, war Klassensprecherin, Asta-Sprecherin, bei sportlichen Aktivitäten vorne mit dabei, 1. Vorsitzende im Schwimmverein in Mutterstadt usw., also Funktionen, die immer die Gemeinschaft gefördert haben und dem Gemeinwohl nützlich sind. Auch als Einrichtungsleiterin im Haus Gabriel war ich viel in Gremien, aktuell habe ich mich in systemischer Organisationsentwicklung weitergebildet – das passt jetzt alles so gut. Es wäre schön, wenn es rund würde! Da ich, wie gesagt, in Speyer, wohne, habe ich etwas Abstand: Das tut gut. Mein Sohn wollte früher nicht mit mir in der Stadt einkaufen gehen, auch in Restaurants trifft man dann dauernd Leute von der Arbeit … Ich habe jetzt mal die Chance genutzt, acht Wochen nicht zu arbeiten und den Reset-Knopf gedrückt. Ich war sieben Wochen lang unterwegs, davon fünf alleine, mein VW-Bus und ich: erst Italien, dann mit der Fähre nach Albanien, Montenegro, Kroatien. Es muss warm sein, und es muss Wasser da sein! Übrigens finde ich auch wichtig, dass man eine Mittagspause als Pause nutzt. Der Friedhof hier ist doch wie ein großer Park!
Also zusammenfassend: Kraft schöpfen ist mir wichtig, um die gebrauchte Energie bündeln zu können.
Angesichts unserer Kultur sind Leitbilder ja etwas Heikles; gibt es Menschen, Haltungen, Werte, die Sie in besonderer Weise geprägt haben und für die Sie einstehen?
Da fällt mir spontan eine Wegbegleiterin aus meiner Kindheit und Jugend ein: Jutta Rothburg, die Gemeinwesenarbeiterin unseres evangelischen Jugendzentrums in Koblenz-Lützel – heute ist dieser Stadtteil auch ein sozialer Brennpunkt und Soziale Stadt Gebiet: Ohne sie hätte ich sicherlich kein Abitur gemacht und Pädagogik studiert; sie gab mir das Selbstvertrauen, meine Wege zu gehen und eine reflektierte und hinterfragende Person zu werden.
So ist bestimmt meine Haltung entstanden: „Alle annehmen und Ressourcen entdecken und fördern.“
Und zum Abschluss bitte eine Buchempfehlung für die Sommerferien!
Wer Lust auf ein bisschen Pandemie, verschrobene Charaktere und das Thema Führungsqualität hat, dem empfehle ich: Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger
Wenn es ein ganz leichtes Büchlein sein soll, man Krimis liebt und man im Bereich der Kindertagesstätten arbeitet, dann kommt man um den Bestseller Achtsam Morden von Karsten Dusse und den Fortsetzungen nicht drumherum.